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MikroNews - Ausgabe #29

Marco Herack
12 minuten gelesen

Normalerweise machen wir zwischen den Newslettern keine Crosspostings, aber in diesem Fall erlaube ich mir eine Ausnahme, weil in dem Text eine monatelange Recherche steckt. So viel Zeit habe ich noch nie in einen einzelne Analyse gesteckt.

Wir werden die Trennung künftig aber wieder achten. Wer also auch an unseren selteneren Auslandsthemen interessiert ist, sollte sich für den Newsletter bei www.auslandsbericht.de anmelden.


Das Jahr 2022 soll kein einfaches sein. Die russische Invasion in die Ukraine, als Fortsetzung des Kriegsbeginns in 2014, hat bereits viele Gewissheiten umgeworfen und dadurch einen sehr kraftzehrenden Prozess in Gang gesetzt. Deutschland begab sich in eine Phase der Neufindung. Die beschworene ‚wertegeleitete Außenpolitik’ wurde plötzlich konkret. Und dann ging es mit der feministischen Außenpolitik weiter, die man sich gerne in den Koalitionsvertrag schrieb, aber bis heute keiner tieferen Definition unterzog. Die Definition wäre hilfreich gewesen, nachdem im Iran von Frauen angeführte Proteste gegen die Ermordung von Mahsa Jina Amini begannen.

Quelle: Auswärtiges Amt https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/themen/feministische-aussenpolitik

'Ja Mist, da muss man sich nun wohl äußern‘, mag da mancher im Kanzleramt und Außenministerium gedacht haben, nachdem die Proteste nicht mehr aufhören wollen. Ein starkes Zögern, obwohl die Menschen im Iran von der islamischen Republik niedergeprügelt, ermordet und vergewaltigt werden. Ich bin mir bis heute nicht sicher, wie stark man Außenministerin Baerbock (feministische Außenpolitik) und Kanzler Olaf Scholz (intersektionaler Feminist) wirklich hätte unter Druck setzen können, wenn es diesen Begriff und diese Idee nicht gegeben hätte. Aber das alles war da und so war der Zwang zum Handeln größer als üblich. Viele Vorwürfe und Enttäuschungen später, waren es Deutschland und Island, die im UN-Menschenrechtsrat eine Resolution vorschlugen, dernach die Gewalt der iranischen Führung gegen friedlich Demonstrierende unabhängig untersucht werden soll. Die Resolution fand eine Mehrheit.

Dass die deutsche Haltung zu einem aktiven Tun führt, war durchaus hart erkämpft und kein Selbstläufer. Und dennoch müssen wir uns heute hier mit dem Iran beschäftigen. Was in gewisser Weise auch ein Paradox ist, da die Iranerïnnen ihre Sache elaboriert und realistisch kommunizieren. Ich werde mich daher meinen ‚Glaubensbrüdern‘ aus dem Westen und diversen Analystïnnen widmen, die manches Mal mit einem eher zweifelhaften Blick auf die Lage schauen.

Was ist?

Doch auch das geht nicht ganz ohne Grundlagenarbeit.

Was wir im Iran sehen, waren anfänglich ‚nur‘ Proteste, die durch den Mord an Mahsa Jina Amini ausgelöst wurden. Diese Proteste betten sich ein in einen revolutionären Prozess, der laut Ali Fathollah-Nejad seit 2017 läuft und seinen vorläufigen Höhepunkt im ‚Bloody November‘ 2019 fand, bei dem das Regime einfach das Internet abstellte und über 1.500 Menschen erschoss. Die Zahl ist vorsichtig gewählt und quasi offiziell. Durch das fehlende Internet gab es keine Weltöffentlichkeit und auch im Nachgang wurde in den westlichen Medien nicht berichtet. Die Reuters-Reportage steht für sich allein. Wir hatten mit Ali einen Podcast bei der Foreign Times.

Wenn ihr also heute die Forderung der Iranerïnnen hört, dass ihr hinschauen sollt, dann kommt diese Forderung aus dieser Erfahrung des nicht gesehenen Mordes in 2019. Leider ergibt sich daraus in Deutschland auch ein Missverständnis. In einem Aufruf von über 600 deutschen Kulturschaffenden steht nicht mehr als eine Antwort auf diese Bitte: ‚Wir sehen euch‘. Das ist sicher nett gemeint, es gibt aber auch die Bitte, die Stimme der Iranerïnnen zu werden, denen das Internet abknapst wird. Die Iranerïnnen bitten, zu versuchen, die jeweils landeseigenen Politikerïnnen zur Unterstützung der Demonstrantïnnen zu bewegen. Kurz gesagt, die jeweiligen politischen Akteure eures Landes dazu zu bringen, eine Wahl zu treffen: Für die iranischen Bürgerïnnen und gegen die islamische Republik.

Was die Proteste selbst betrifft, sind sie stark fortgeschritten und haben etwas erreicht, dass es im Iran in den letzten 43 Jahren nicht gab. Geeint, mit einem Ziel, gegen das Regime. Alle Ethnien und Gruppierungen sind am Board. Die aktuellen Proteste verwarfen die Segmentierung der Gesellschaft, die ein wesentlicher Kern des Machtfaktors der Mullahs waren. Das war möglich, weil die Triebfeder des Widerstands von Frauen und jungen Menschen übernommen wurde. Die einen, als grundsätzlich dauerhaft unterminierte Gruppe und die anderen als Generation ohne Zukunft.

Um einen Zugang zu der Innerlichkeit der Proteste zu bekommen, ist das ein wichtiger Punkt: keine Zukunft, sprich ein Leben als Tote.

Die Jugend im Iran sieht sehr genau, wie die Familien der Mullahs im Ausland ihr Geld verprassen und dabei halb nackt mit ihrem Reichtum protzend auf Instagram durch die Welt rennen. Sie sehen, dass jede wirtschaftliche Wertschöpfung in die Taschen des Regimes fließt und dafür verwendet wird:

  • Repressionsmaßnahmen gegen das Volk zu finanzieren.
  • Die eigenen Taschen zu füllen und die Familien ins Ausland zu verfrachten.
  • Das Atomprogramm zu finanzieren, wodurch 'normale' Iranerïnnen es immer schwerer haben sich mit der Welt zu verbinden.
  • Waffen zu entwickeln, die man selbst nutzen aber auch in Kriegsgebiete liefern kann (bspw. an Russland) um Bündnisse zu schmieden.
  • Milizen im Ausland zu finanzieren und den Einfluss des Irans im Nahen Osten zu mehren bzw. das Ausrauben weiter Länder (bspw. Libanon, Irak) zu finanzieren.

Zeitgleich werden die Menschen im Iran selbst mit Kleiderordnungen, humaner Abwertungen, Folter, Willkür und Repression überzogen. Wer aufsteht, wer sich wehrt, wird erschossen oder gefoltert und erschlagen. Die Gründe für ‚das Aufstehen‘ sind dabei egal. Ein Auslöser für das Massaker in 2019, waren Proteste wegen stark steigender Benzinpreise. Für das Niederschießen der Proteste in 2021 galt Wassermangel als einer der Auslöser. Zyniker würden an der Stelle festhalten, dass Verdurstende im Iran die demokratische Wahl haben, ob sie verdursten oder beim Protestieren gegen den Durst sterben.

Mahsa Jina Amini wurde von den Sittenwächtern wegen angeblich 'zu enger Hosen' verschleppt und ermordet. Wie viele Frauen bei solchen Vorgängen Sterben ist unklar. Es gibt in jedem Fall eine merkliche Anzahl verschwundener Frauen, im Zusammenhang mit den Sittenwächterïinnen, von denen die Familien nie wieder etwas hören. Das Verschwinden, die Sorgen und das Suchen, ist eine Erfahrung, die viele, wenn nicht gar alle Familien im Iran teilen. Die Angst und das Leid sitzen tief. Das verbindet alle Iranerïnnen und lässt sie zu einer Entität verwachsen.

Dass es im Iran trotz allem auch lange Phase des Erduldens und der Ruhe gab, lag auch an einer Drohung des Regimes, die nach innen und außen kommuniziert wurde: ‚Stellt euch nur vor, was passiert, wenn die Menschen sich wehren. Kann die Welt ein zweites Syrien verkraften? 500.000 Tote und Millionen Flüchtlinge, die alle in den Westen wollen? Ist das euer Ziel?‘

Dieses Bildnis hat eine zweite Seite: ‚Wenn ihr das nicht wollt, müsst ihr es zulassen, dass wir unser Volk nicht nur unterdrücken, verhungern und verdursten lassen, so wie es uns beliebt. Ihr müsst es zulassen, dass dieses Volk nicht mehr lebt oder nur so lange lebt, wie es uns dienlich ist. Als Verfügungsmasse, die wir ausbeuten und mit der wir unsere Macht mehren.‘ Ein Volk als Nutztier für des Regimes. Der Westen schaut weg.

Der Iran-Diskurs: Das Syrien-Szenario und der Bürgerkrieg

Mit diesem Grundwissen im Gepäck lassen sich viele Argumente, denen wir aktuell gegenüber stehen, leichter verstehen.

Das Syrien-Szenario ist ein stetes. Es wird seit Jahren angeführt. Luziderweise ist das iranische Regime über seine Milizen Teil des Problems in Syrien, aber das verleiht der Drohung gegenüber der internationalen Gemeinschaft nur mehr Glaubwürdigkeit. Im Sinne der aktuell revolutionären Proteste hat das aber eine besondere Note. Denn darauf setzen mehrere ‚Argumente‘ derer auf, die für ein kooperatives Verhalten der Bundesregierung gegenüber der islamischen Republik argumentieren.

Die Grundlage für das Szenario ist ein drohender Bürgerkrieg. Dieser wird aktuell häufiger von Azadeh Zamirirad (SWP) ins Spiel gebracht. Ein Bürgerkrieg, das bedeutet zwei oder mehr bewaffnete Grupierungen gegeneinander.

Da die Protestierenden im Iran keinerlei Waffen haben, fragt man sich allerdings, woher diese kommen sollen. Natürlich durch die Bewaffnung von außen, würde wohl Rainer Hermann (FAZ) sagen, der dazu suggestiv Gerüchte verbreitet, deren Ursprung ich bisher nur in dem Regime nahestehenden Quellen verorten kann.

Mutmaßlich unterstützt Saudi-Arabien auch die Separatistenbewegung in der unruhigen östlichen Provinz Sistan-Belutschistan. Es ist kein Geheimnis, dass Saudi-Arabien, das sich Stellvertreterkriege mit Iran liefert, den Sturz der Islamischen Republik und eine andere politische Ordnung in Teheran will. (Quelle; KAS)

An der Aussage von Rainer Hermann ist aber noch mehr falsch. Es gibt keine Separatistenbewegung. In Kurdistan wie auch in Sistan-Belutschistan betonen die Demonstrantïnnen explizit das Gegenteil: 'Es ist unser Land. Wir wollen einen Iran ohne Mullahs, ohne dieses Regime.' Gestützt werden die Demonstrantïnnen, gegen die das Regime besonders brutal vorgeht, im gesamten Iran. Dort erschallen bei Demonstrationen Rufe wie: „Zahedan, Kurdistan, Irans Auge und Licht".

Separatismus, das ist auch eine Behauptung des iranischen Regimes, das zur Selbstbestätigung die Kurden im Irak angreift. Die protestierenden Bürgerinnen und Bürger im Iran nehmen den Vorwurf auch deshalb aktiv auf und zeigen mit ihrem Mitteln, dass er nicht stimmt. Alle stehen zusammen und füreinander ein. Sie eint ein gemeinsames Ziel.

Ein Erzählstrang für die Welt

Der Iran war in Deutschland immer eine Geschichte. Erzählt von den Iranversteherïnnen dieser Republik, die sich in der oberen Mittelschicht Teherans ihre Informationen holen.

Leutselig versichert man da: ‚Sicher, da gab es die unschönen Vorkommnisse in 1979. Aber der Schah, der vertrieben und dessen Volk danach gesäuberte wurde, war auch nie ein wirklicher Menschenrechtsfreund. Da darf man von den neuen Herrschern nicht zu viel erwarten. Wichtig ist, dass man nun einen Progress sehe.‘ Und genau dieser Progress wurde zur Erzählung. Man kann ihn in wenige Punkte untergliedern. Da diese Erzählung einem Progress unterliegt, habe ich die einzelnen Punkte zeitlich kategorisiert. Hierzu eine kurze Erläuterung:

  • (Historisch) = Die Behauptung bestand auch schon vor den revolutionären Protesten.
  • (Neu) = Die Behauptung wurde während der revolutionären Proteste eingeführt.
  • (veraltet) = Die Behauptung wurde zwischendrin von diesen Menschen vorgetragen, hat sich aber zerschlagen.

Doch nun zu den Elementen der Erzählung.

  1. (Historisch) Proteste gab es immer nur aus wirtschaftlichen Gründen.
  2. (Historisch) Daraus folgt, dass man dem Iran nur helfen müsse, sich wirtschaftlich zu entwickeln und schon wird es den Menschen besser gehen.
  3. (Historisch) Ein ideales Mittel dazu ist JCPOA, der Vertrag über das iranische Atomprogramm, der dem Westen Aufträge für die Wirtschaft und dem iranischen Volk wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten bringen werde.
  4. (Historisch) JCPOA ist für den Westen eine historische Chance auf die Verhinderung eines weiteren Atomwaffenstaates. So viel sollten wir aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt haben.
  5. (Neu) Außerdem könne man damit Öl- und Gas ersetzen, das man nicht mehr von Russland kaufen möchte.
  6. (Historisch) Vieles was 'man so hört' unterliege auch medialen Zuspitzungen. Von Saudi Arabien finanzierte Oppositionsmedien hätten daran ein klares Interesse.
  7. (Neu) Wenn das iranische Regime es möchte, kann es die Proteste jederzeit mit aller Härte niederschlagen. Dass es das nicht tat, ist an sich schon ein Progress. Man lässt Spielräume zu.
  8. (Veraltet) Aktuell werden keine Strafen für das Nicht-Tragen des Hijab umgesetzt.
  9. (Veraltet) Selbst wenn die Proteste niedergeschlagen würden, gäbe es aktuell soviel Veränderung, dass der Hijab Zwang wegfallen werde.
  10. (Historisch) Beim Hijab müsse man aber auch verständig sein. Das ist für den Iran, die Gesellschaft, eine kulturelle Angelegenheit und da sollte man als Westen nicht neo-koloniale Debatten führen.
  11. (Neu) Die Proteste sind ohne Führung und Plan. Es gibt seitens der Demonstranten keine Ideen für die Zukunft. Auch eine organisierte Opposition sucht man vergebens.
  12. (Neu) Die Proteste seien das eine. Aber der Westen sollte sich auf die Gefangenen konzentrieren und deren Rettung befördern. Da könne man sicher etwas mit dem Iran verhandeln.
  13. (Historisch) Man sollte Entwicklungsprogramme auflegen, die Begegnungen in der Region fördern und so die Vernetzung der progressiven Kräfte vorantreibt.
  14. (Neu) Es mache keinen Sinn, die Revolutionsgardisten als solche zu sanktionieren, da bereits Einzelpersonen auf der Sanktionsliste seien und die rechtlichen Hürden dafür sehr hoch sind. Besser man sanktioniert zielgenau und nur nach Beweislage im Einzelfall.
  15. (Historisch) Wer auch immer auf das Regime folgt, könnte noch viel schlimmer sein.
  16. (Historisch) Deutschland muss sich seiner Verantwortung für die Welt bewusst werden und mehr Mut zur Realpolitik haben. Also einer Politik, die sich nicht an den eigenen Werten und Weltvorstellungen orientiert, sondern an einer Politik, die allein auf dem eigenen Durchsetzungsvermögen beruht.

Manche Dinge lassen sich nicht in Listen packen. All diese Punkte werden begleitet von einer möglichst abstrakten Beschreibung tatsächlicher Gewalt. Von Verharmlosungen, wo sie möglich sind, aber immer unter der Betonung, dass jede Gewalt immer schlimm ist.

Wem fällt auf, dass die Machtausbreitung des Iran in der MENA-Region keine Erwähnung findet?

In Deutschland wurden viele Ereignisse gar nicht erst berichtet. Entsprechend hatte die Öffentlichkeit keine Chance, sich ausreichend über den Iran zu informieren. Dieses Versagen ist den betreffenden Korrespondenten anzulasten, die entweder nicht berichteten, oder Dinge wegließen, um ihre Akkreditierung nicht zu gefährden. Eine Untersuchung des Medienverhaltens zum 'Bloody November' 2019, gibt hierzu vertiefte Einblicke (PDF Seite 31).

Zudem gab es vom Iran mitfinanzierte Institute, die Verbindungen in den Wissenschaftsbetrieb hinein schufen und ihre Ideen zur Lage im Iran darüber die Öffentlichkeit träufelten. Nachgefragt von Journalisten aller Medien durften diese Personen dann das Bild vom Iran in Deutschland zeichnen. Wie so etwas zustande kommt, kann man bestenfalls aus Hintergrundgesprächen erahnen. Da wurden nicht genehme Wissenschaftlerïnnen gezielt diskreditiert. Es wurden genehme Menschen gezielt platziert. Ob die im Auswärtigen Amt sitzen oder in Instituten ist dann egal, weil sich das im Laufe der Zeit eh durchwechselt und man so überall reingekommt. Ein Vorgang über Jahre.

Hier wäre eine gezielte Aufarbeitung wünschenswert.

Ein auffälliges Bild

Aber wer auch immer was getan hat und wer welche Dinge wirklich glaubt hat. Auffällig ist, dass es in Deutschland OK war, dass ein Bild vom Iran gezeichnet wird, in dem es völlig legitim ist, dass Menschen gefoltert, gedemütigt, ihrer Rechte beraubt oder gar umgebracht werden.

Daher möchte ich an dieser Stelle die Einzelargumentation in ihrer Konsequenz erzählen. Es ist reine Textanalyse, also etwas, das allen hätte auffallen müssen, die sich mit diesen Argumenten konfrontiert sahen:

Der Iran ist ein armes Land. Zumindest wenn man auf die Bevölkerung schaut. Die Mittelschicht ist erodiert, immer mehr Menschen leiden Hunger und Durst. Das ist die Schuld der westlichen Sanktionen. Es ist logisch, dass die Menschen deswegen auf die Straße gehen. Sie wollen eine Zukunft haben, in der sie sich Dinge leisten können. Aber die Regierung des Iran trägt keine Verantwortung, sie kann die Sanktionen ja nicht ändern. Daher sollte der Westen darauf hinwirken, dass dem Iran eine wirtschaftlich positive Entwicklung ermöglicht wird.
Freilich sollte der Westen davon auch etwas haben. Der Iran droht damit eine Atombombe zu entwickeln, würde aber davon ablassen, wenn man ihm eine Perspektive bietet. Ein Atomabkommen (JCPOA) ist hier die Lösung. Der Westen bekommt Aufträge für seine Unternehmen und der Iran kann Wirtschaftswachstum erzeugen. Zwar haben wir in den 1,5 Jahren JCPOA bereits gesehen, dass das Geld nicht bei den iranischen Bürgerïnnen ankommt, aber der Zeitraum war zu kurz. Es gibt ja auch erst mal viel zu investieren. Da muss man Geduld haben.
Wie realistisch das ist, wissen wir freilich auch nicht, aber allein die historische Chance, dass man eine Atombombe verhindert haben könnte, sollte uns als Leitfaden dienen. Da jeder Deal ein Geschäft ist, muss sich dadurch auch niemand erpresst fühlen. Seit Russlands Krieg gegen die Ukraine ist der Iran-Deal auf jeden Fall für den Westen eine große Chance, denn ein Iran, der an den Weltmärkten Rohstoffe verkaufen kann, erhöht das Angebot und senkt somit die Energiepreise. Nie war so viel Win-Win.
Der positive wirtschaftliche Ausblick würde nicht nur die wirtschaftlichen Sorgen der Protestierenden beruhigen, sondern auch den Behörden ermöglichen, die Proteste nicht brutal niederschlagen zu müssen. Das hätte man jederzeit tun können, aber das Regime ist progressiv und an der Entwicklung des Lands interessiert, deswegen hat es sich bisher zurückgehalten. Es könnte noch viel schlimmer kommen als 15.000 Gefangene, vielfache Folter, massenhafte Vergewaltigungen, Totprügeln auf offener Straße und über 500 Tote, darunter viele Kinder. Man denke nur an Syrien oder einen Bürgerkrieg, der das Land zu Syrien werden lässt. Die Gegner des Regimes haben ja nicht mal einen Anführer und die Opposition ist nicht organisiert. Das kann nur im Chaos enden.
Im Grunde wissen wir auch zu wenig. Da ist zum einen die Sprachbarriere und zum anderen die von Saudi Arabien finanzierten Oppositionsmedien. Die hätten durchaus das Ziel, die Meinung im Westen zu lenken. Die Interessen Saudi Arabiens sind außerdem jedem bekannt.
Generell muss sich der Westen auch fragen, ob er seine neo-kolonialen Diskussion gen Iran wirklich fortführen möchte. Historisch betrachtet haben die Menschen im Iran zwar einer Wahlfreiheit gefrönt, was die Kleidungswahl betrifft, aber mittlerweile gehört der Hijab zur Kultur des Landes, so wie jeder Deutsche Weißwurst isst und Bier trinkt. Es gilt hier Toleranz aufzubringen und Respekt für die Wünsche des Regimes zu pflegen. Die Menschen gehen ja auch nicht gegen das Kopftuch auf die Straße, sondern weil sie wirtschaftliche Verbesserungen wollen.
Niemand kann von wirtschaftlichen Entwicklungen profitieren, der im Gefängnis sitzt und leider ist die Kultur der iranischen Regierung recht gnadenlos. Es würde daher der Sache beitragen, wenn sich der Westen darauf konzentriert dem Regime Geld und Sanktionserleichterungen anzubieten, wenn sie die Menschen nicht mit der Todesstrafe versehen. So würde die Menschenrechtspolitik des Westens auch positiv wirken.
Wenn man denn schon die Protestierenden unterstützen möchte, dann ist der beste Weg, dies zu tun, in dem man Begegnungsprogramme in der Region auflegt. Das Auswärtige Amt könnte im Sinne seiner feministischen Außenpolitik Programme finanzieren, in denen vom iranischen Staat auserwählte Personen andere Feministinnen aus der Region treffen. Das erhöht die Chance des Gegenseitigen Lernens und sicher wird solche Konstrukte niemand für Spionage und Kontrolle nutzen.
Das ist wesentliche konstruktiver als ganze Institutionen wie die Revolutionsgarden zu sanktionieren oder gar auf Terrorlisten zu setzen. Zumal die rechtlichen Hürden für die Sanktionierung eines Militärs in der EU sehr hoch sind. Warum all die Arbeit? Es gibt doch Einzelsanktionen gegen die meisten dieser Revolutionsgadisten und der Einzelbeweis ist doch ein europäisches Menschenrecht. Ja, das dauert vielleicht lange und länger, aber Europa ist nicht so willkürlich wie die USA.
Insbesondere Deutschland ist da weiter, muss aber auch von den USA lernen, wo dies geboten ist. Ein Mindestmaß an mehr Mut zur Realpolitik, in guter Helmut Schmidt-Tradition, ist momentan wichtig. Die Welt wird rauer, auf niemanden ist mehr Verlass. Da muss jeder an sich denken und die Interessen Europas sind nun Mal auch anders gelagert als die der USA. Wir schaffen das!

Klingt alles ganz logisch und gangbar, wenn man bereit ist, ein paar Annahmen einfach hinzunehmen und die Menschenrechte über Board wirft oder zumindest niemandem mehr abverlangt. Ich habe mir erlaubt zur Verklarung des Inhalts die ein oder andere Konsequenz gleich mitzuformulieren.

Das Ende der Neutralität

In Deutschland hat man sich seit 2001 sehr bequem eingerichtet. Seit die USA Menschenrechte nur noch wirtschaftlich orientiert anerkannten, konnte man von jeder Form der Verantwortung absehen. Man nahm Dissidenten auf, kritisierte aber auch niemanden mehr öffentlich für Menschenrechtsverstöße, wenn wirtschaftliche Interessen im Spiel waren.

Stattdessen erdachte man sich eine deutsche Schweiz. Groß, mächtig und möglichst unabhängig. Alles ging mit jedem. Sanktionen gab es bestenfalls als Feigenblatt. Das war ein politisches Treiben. Doch auch die mediale Öffentlichkeit wollte Linien eher vermeiden. Menschenrechte? Wir kümmern uns doch um LGBTQ+. Schon die Arbeit von Amnesty wurde als Lobbying angesehen, bei dem mindestens beide Seiten dargestellt werden mussten, wenn nicht gar ein kritisches Übergewicht gegenüber Amnesty angebracht war.

Denn wir alle wissen nur zu genau, wie die Menschenrechte in der Geopolitik missbraucht werden. Niemandem ist mehr zu trauen. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen. Und spätestens mit Donald Trump als Präsident der USA, konnte man das in Europa ohne weiteres glauben. Wie hoch der eigene Wert ist, sieht man jedoch daran, dass nahezu alle Diktaturen dieser Welt sich um europäische und deutsche Wertschätzung ihnen gegenüber bemühen. Wir sind das kombinierte Fairtrade & Biosiegel der Geopolitik.

Es ist an der Zeit für eine neue Erzählung. Wenn eine ‚wertegeleitete‘ und ‚feministische‘ Außenpolitik zu dieser beiträgt, dann sollten wir das dankbar aufnehmen und sie ausarbeiten. Das fängt mit einem kritischen Blick auf alte Glaubensmuster und gewohnte 'Freunde' an.

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